Maria SpychigerMehr Musikunterricht an den öffentlichen Schulen?
Studien zur Schulpädagogik, Band 3
Hamburg 1995, 305 Seiten
ISBN 978-3-86064-361-7 (Print)
Zum Inhalt
Die Präsenz von Musik hat infolge der Entwicklung von Tonträgern und der Verbreitung via Massenmedien im 20. Jahrhundert stark zugenommen und ist zu einem bedeutenden Marktzweig mit entsprechendem Beschäftigungspotential geworden. Eine Ja-Antwort auf die mit dem Buchtitel aufgeworfene Frage liegt schon von diesem Sachverhalt her nahe. Pragmatische Betrachtungen spielen in diesem Buch jedoch eine untergeordnete Rolle, die Autorin wendet sich der Begründungsfrage von Musik als allgemeinem Bildungsgegenstand vielmehr im Sinne einer Philosophie der Musikerziehung zu. Letztere ist im nordamerikanischen Raum als Disziplin in den letzten zehn Jahren aufgekommen; die zusammenfassende Darstellung ihres Entwicklungsstandes ist für die europäischen Leserinnen und Leser besonders willkommen und verdankenswert.
Seit den Erfolgen in den ungarischen Musikgrundschulen hört man als Argument für vermehrten Musikunterricht immer wieder, dass er allgemein erwünschte Wirkungen auf die Schülerinnen und Schüler habe, z.B. deren Kreativität fördere, Schul- und Lebensfreude steigere, die Leistungsbereitschaft und das Sozialverhalten verbessere. Diesen Begründungsansatz bezeichnet die Autorin als „außermusikalische Argumentation“. Sie stellt dazu etliches empirisches Material vor, besonders interessant darunter sind ausführliche, z.T. bisher noch unveröffentlichte Resultate aus dem Schweizer Schulversuch „Bessere Bildung mit mehr Musik“. Die außermusikalische Argumentation wird zum Schluss verworfen, vor allem weil sie einen „instrumentalistischen Beigeschmack“ hat, d.h. in ihr die Mentalität der möglichen Verwendung von Musik als Mittel zum Zweck anklingt. Aber auch aus empirischer Sicht hält das Argument nicht was es verspricht, die vielpropagierten Effekte können in etlichen Studien nicht oder nur in geringerem Masse als erwartet nachgewiesen werden.
Die Autorin entwickelt einen neuen Begründungsansatz, den sie „zeichentheoretisch orientiert“ nennt. Die Ausgangslage bildet die Sicht von Musik als Zeichensystem, analog zu Sprache oder numerischen und bildlichen Zeichensystemen. Zeichensysteme liefern das Material und die kognitive Struktur für die ständig ablaufenden Semiosen, auf denen menschliches Handeln und Erleben beruht und die sich als Erfahrung verfestigen - ein Teil davon ist nun also musikalischer Art. Die Gedankengänge sind trotz der Komplexität des Gegenstands anschaulich dargestellt und gut nachvollziehbar. Die Bedeutung des Musikalischen in der Menschheitsgeschichte und in der individuellen Entwicklung wird in einem weiteren informationsreichen, spannend zu lesenden Buchteil aufgezeigt.
Warum denn ist der Musikunterricht in den öffentlichen Schulen gegenüber andern Fächern im Hintertreffen und müssen Musikpädagog/innen immer wieder um dessen Stundenanteile zittern und kämpfen, wenn es doch so viel Evidenz für die Wichtigkeit des Musikalischen gibt? Die Autorin bringt das Phänomen hauptsächlich mit der Zuordnung von Musik zum Ausdrucks- und Emotionsbereich in Zusammenhang. Traditionellerweise werden in der westlichen Kultur die dem Verstand zugeschriebenen Bereiche für die Bildung wichtiger genommen. Im Hinblick auf eine Philosophie der Musikerziehung eröffnen sich nach dem ästhetischen Ansatz und der Kunstwerkdidaktik der 70er Jahre und dem sich seit den 80er Jahren fortwährend entwickelnden handlungsorientierten Musikunterricht auf einer semiotischen Grundlage weitere vielversprechende Perspektiven. Die Autorin ist seit mehreren Jahren im musikpädagogischen Bereich tätig und hat sich schon vor dieser Veröffentlichung mit Publikationen bemerkbar gemacht. Man kann gespannt sein, ob und wie sie ihren zeichentheoretisch orientierten Begründungsansatz weiterentwickelt und was er allenfalls für einen Einfluss auf den Fortgang der musikpädagogischen Theorieentwicklung ausüben wird.
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