Denis ForasaccoGirolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900
Zwischen fiktivem Archetypus und Projektionsfigur der Krise
Studien zur Germanistik, Band 26
Hamburg 2008, 422 Seiten
ISBN 978-3-8300-3466-7 (Print)
ISBN 978-3-339-03466-3 (eBook)
Rezension
[…] bietet die Monografie Forasaccos […] viel mehr als der Titel vermuten lässt. Auf rund 400 Seiten wird der Leser mit allen Stationen der An- und Abwesenheit Savonarolas in der europäischen Geistesgeschichte vertraut gemacht und lernt rasch: Savonarola-Dichtung über die vermeintlich ferne Epoche der Renaissance ist immer auch Dichtung über die eigene Zeit.
Zum Inhalt
Das Buch handelt von einem spezifischen Thema, das von der germanistischen Fin-de-siècle-Forschung noch nicht ins Detail untersucht wurde. Die bemerkenswerte Präsenz Girolamo Savonarolas in mehreren Texten, vor allem Dramen, der letzten Jahrhundertwende darf schon wohl eine Inkongruenz innerhalb der Renaissancefiguren-Konstellation (Leonardo, Raffael, die Borgias, Machiavelli) darstellen, welche Protagonistin des damaligen Kults um die bildenden Künste und die anthropologischen und sozialen Ideale des italienischen Rinascimento war: Was hatte der dunkle, mittelalterliche, von Nietzsche gehasste Asket mit der Blütezeit der Renaissance zu tun?
Savonarola repräsentierte natürlich den Antagonisten Lorenzo de' Medicis, die Negation des heidnisch-klassizistischen Geistes der Künstler-Dämonen jener Zeit; doch gleichzeitig war er sicher ein bürgerlich selbstgeschaffener Renaissancemensch, welcher dank eines politisch sehr modernen Selbstbewusstseins auf eine rückblickende Reaktion auf die zeitgenössische Kultur im Zeichen der persönlichen Macht abzielte. Sein ästhetisches Ideal selbst, das in eine wiedergeborene, klassische Versöhnung des Guten und des Schönen münden sollte, faszinierte nicht nur Fra Bartolommeo oder Michelangelo, sondern auch die Künstler und die Bürger um 1900. Das Renaissancebild um die Jahrhundertwende war in Wirklichkeit Projektionsoberfläche der wilhelminischen Gesellschaft, in der sich die Ekstase der damals aufblühenden imperialistischen Macht mit dem Vorahnen der Vergänglichkeit der selben Macht vermischte. Das kulturelle Verfahren zur Selbst-Legitimierung der neubürgerlichen Schicht bestand in der Suche nach fiktiven Archetypen der Geschichte:
Keine andere Epoche konnte die Geister der Deutschen zu jener Zeit mehr begeistern als die grandeur der italienischen Renaissance. Von kaum etwas konnte der Bürger des wilhelminischen Reichs träumen als von der außerordentlichen Persönlichkeit des uomo universale und des genio des rinascimento. Trotz alledem erschien gerade damals die Figur des Savonarola als Topos auf den Bühnen und im Werk sowohl von „Trivialautoren“ als auch von kanonischen Dichtern wie Hugo von Hofmannsthal, Christian Morgenstern und Thomas Mann. Was von einer rein ästhetischen Perspektive aus auffällt, ist die „Unliterarisierbarkeit“ dieser vielseitigen Figur, die das theatralische Scheitern von Morgensterns und Manns Monumentalprojekten viel beitrug. Savonarola war nicht nur unvermeidliches Produkt der Dekadenzliteratur um 1900 (um 1800 wurde er vom Renaissancebild der Hochklassikzeit – bei Goethe z.B. – hingegen vollkommen verdrängt), sondern er nahm an der Krise der Dichtung aktiv teil, sodass er als eine konkrete Projektionsfigur dieser Krise selbst wohl gelten darf: Savonarola inkarnierte alle Widersprüche und Verzerrungen der Moderne und der Dekadenz.
Von einem ideengeschichtlichen Gesichtspunkt her repräsentiert Savonarola einen fiktiven Archetypus des präfaschistischen Denkens, wie es beim konservativen Thomas Mann deutlich ist. Ein Vergleich zum Antagonisten der Spätrenaissance Giordano Bruno – dem Opfer um der Freiheit des Gedankens willen – klärt schon deutlich die politische Valenz der Figur in der Kultur um 1900.
Denis Forasaccos Buch ist also ein an literaturgeschichtlichen, ästhetischen und kultur- und ideengeschichtlichen Anmerkungen reiches Werk, das nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern Geistes- und Kulturwissenschaftler im Allgemeinen interessieren kann. Die Methodologie der Motivforschung dient hier einer umfangreicheren Untersuchung aller Windungen der komplexen Dekadenzepoche um 1900, ohne zu vernachlässigen, deren entsprechende Prämisse im ganzen 19. Jahrhundert zu vertiefen.
Schlagworte
19. JahrhundertChristian MorgensternDekadenzliteraturFaschismusFin de SiècleHugo von HofmannsthalIdeengeschichteKulturgeschichteLiteraturwissenschaftMotivforschungPräfaschismusRenaissancebildRenaissancismusSavonarolaThomas MannWilhelminische GesellschaftIhr Werk im Verlag Dr. Kovač
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