Andreas BergDie Einheitlichkeit höchstrichterlicher Verfassungsrechtsprechung im Rahmen des § 16 Abs. 1 BVerfGG
Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zwischen divergierenden Rechtsauffassungen und Konformitätsverpflichtung
Studien zur Rechtswissenschaft, Band 373
Hamburg 2016, 290 Seiten
ISBN 978-3-8300-9029-8 (Print)
ISBN 978-3-339-09029-4 (eBook)
Zum Inhalt
„Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird“. Das in dieser höchstverfassungsrichterlichen Auffassung verwurzelte, altphilosophische und schon im antiken Europa entstandene Gleichheitsdogma gehört zu den prägendsten Gedanken moderner Verfassungsgrundsätze. Ihm haftet die Erkenntnis an, dass Gerechtigkeit nach Gleichbehandlung verlangt.
Eine verbindliche Rechtsanwendungsgleichheit hielt in der deutschen Rechtsordnung erstmalig im Entwurf der Paulskirchenverfassung und folgend in der Weimaraner Reichsverfassung Einzug. Das Bundesverfassungsgericht als Höhepunkt der traditionsreichen Entstehungsgeschichte einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland ist mit seinen beiden Spruchkörpern, welche jeweils voneinander unabhängige, aber hierarchisch gleichwertige Senate sind, entsprechend an das bestehende Gleichheitsdogma in seiner vielschichtigen Ausprägung gebunden. Einfachgesetzlich sind die Zwillingssenate wörtlich durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nach § 2 Abs. 1 einer Konformitätsverpflichtung unterworfen.
Im Rahmen der Verfassungsmäßigkeitsprüfungen sind die kontinuierliche Schaffung, Aufrechterhaltung und Anpassung aus dem Grundgesetz hergeleiteter Rechtsauffassungen als die elementaren Säulen der bundesverfassungsgerichtlichen Tätigkeit zu bezeichnen. Seitens der Bevölkerung herrscht dabei stets ein Grundvertrauen in die gewichtigen Judikate des höchsten nationalen Verfassungsgerichts, dessen gesellschaftliche Beliebtheit sich allem voran in der Sehnsucht nach Gerechtigkeit ausdrückt. Die vom Bundesverfassungsgericht auf die Hütung des Grundgesetzes und seiner Grundsätze gezielte Rechtsprechung darf dabei aber nicht als historische Versteinerung von Rechtsauffassungen betrachtet werden.
Die Durchsetzung einer generellen und uneingeschränkten Rechtsanwendungsgleichheit birgt die Gefahr der Ungerechtigkeit. Eine Bindung an die eigene Rechtsprechung lehnt das Gericht daher für sich selbst ab. Die im Grundgesetz verwobenen Gedanken der Gleichheit und gleichermaßen auch einer Einheitlichkeit begründen für das Bundesverfassungsgericht vielmehr eine innere Unruhe, geleitet durch das kontinuierlich bestehende Ziel, fortwährend die tatsächlich vorherrschenden Lebensverhältnisse im Rahmen der vor ihm anhängig gemachten Verfahren zu prüfen, und das sich stetig entwickelnde Verständnis der grundgesetzlichen Weisung anzugleichen.
Neben der einheitlichen Gesetzgebung zur Schaffung von Rechtseinheit und Rechtssicherheit, muss insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als ein hervorzuhebender Bestandteil des nationalen Einheitsempfindens Beachtung finden. Durch eine einheitlich gefasste höchstrichterliche Normauslegung ist es möglich, die Rechtssicherheit kontinuierlich und nachhaltig zu stärken. Eine einheitliche Rechtsprechung kann damit als notwendige Voraussetzung für die Einheit der Rechtsordnung bezeichnet werden. Die Existenz der Einheit der Rechtsordnung ohne einheitliche Rechtsprechung bezeichnet von Weber treffend als Illusion. Auch wenn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom größten Teil der Bevölkerung nur bedingt wahrgenommen wird, kann sogar behauptet werden, dass seine Judikate wesentliche Eckpunkte der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland widerspiegeln und das Gericht selbst ein beachtlicher Faktor im politischen Prozess darstellt. Die Sehnsucht der Gesamtheit seiner Adressaten nach Gerechtigkeit und Gleichheit ist stets vorhanden, ungeachtet dessen, wie das Bundesverfassungsgericht agiert und was mit ihm geschieht.
Allerdings kommt es vor, dass in einem anhängigen Verfahren eine Rechtsfrage bzw. Rechtsauffassung Beachtung findet, welche bereits in einer Entscheidung des Parallelsenats beantwortet oder zur ihr Stellung genommen wurde. Auftretende Rechtsauffassungsdivergenzen zwischen den Senaten sind sodann, wie es gesetzlich in § 16 Abs. 1 BVerfGG vorgeschrieben ist, durch das Plenum des Gerichts zu homogenisieren. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Rolle als autoritativer Interpret des Grundgesetzes ist mit der höchstrichterlichen Rechtsanwendungsgleichheit und damit einhergehend auch mit der zu wahrenden Sicherung der Einheitlichkeit seiner Rechtsprechung betraut. Das in § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz normierte Divergenzausgleichverfahren stellt das prozessuale Instrument zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dar.
Gleichermaßen obliegt dem Bundesverfassungsgericht die Verfassungsrechtsfortbildung. Dies bekundet die legislative Absicht, das Grundgesetz in einem dynamischen Kontext und kontinuierlichen Prozess des Verfassungswandels zu begreifen. Es bedarf keiner dauerhaften Festschreibung des Rechts, sondern vielmehr der Notwendigkeit, das Recht als lebendiges Gebilde und damit auch das Grundgesetz als eine lebendige Verfassung zu begreifen. Voneinander abweichende höchstverfassungsgerichtliche Rechtsauffassungen gewährleisten aber weder eine für die vielschichtigen Adressaten überschaubare Rechtsprechung, noch tragen sie der Einheitlichkeit der Judikatur, einer transparenten Verfassungsrechtsfortbildung und allgemein der Rechtssicherheit Rechnung. Eine darüber hinaus gehende Vorlagemöglichkeit an das Plenum von Rechtsfragen mit grundsätzlicher Bedeutung seitens eines Senats existiert im Prozessrecht des Bundesverfassungsgerichts nicht.
Dass das Ausgleichverfahren nach § 16 Abs. 1 BVerfGG in der verfassungsprozessualen Rechtsprechungspraxis erst fünfmal seit Bestehen des Bundesverfassungsgerichts bemüht wurde, wirkt erstaunlich und lässt sogar eine gewisse Abneigung der Senate vor der Plenumsanrufung hinterfragen.
Diese Publikation geht im Kern der Frage nach, ob das Bundesverfassungsgericht dem Normzweck des § 16 Abs. 1 BVerfGG gerecht wird. Anhand ausgewählter Judikate wird untersucht, ob den Senaten des Bundesverfassungsgerichts eine solche Scheu vor dem Plenum nicht nur unterstellt, sondern auch nachgewiesen werden kann. Zuvor werden systematisch die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 16 Abs. 1 BVerfGG analysiert und dessen etablierte Auslegung und Anwendung in Korrelation zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Normzweck gesetzt. Nähert man sich dabei der Fülle der im Divergenzausgleichverfahren enthaltenen und in diesem Zusammenhang zu beachtenden Tatbestandsmerkmalen und unbestimmten Rechtsbegriffen, eröffnet sich zugleich ein Nebelmeer von Begriffen mit teils nur schwer bestimmbarem Gehalt. Mögliche verfassungsrechtliche Konsequenzen einer Missachtung des Divergenzausgleichverfahrens schließen diese Untersuchung zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab. Die Arbeit schließt sodann mit einem Formulierungsvorschlag, welcher die erörterten und zusammengetragenen Konkretisierungs- und Erweiterungsvorschläge in § 16 BVerfGG einarbeitet.
Schlagworte
AusgleichverfahrenBundesverfassungsgerichtDivergenzHöchstrichterlichhorror pleniJudikaturKonformitätsverpflichtungRechtswissenschaftVerfassungsrechtVerfassungsrechtsprechung§ 16 Abs. 1 BVerfGGIhr Werk im Verlag Dr. Kovač
Möchten Sie Ihre wissenschaftliche Arbeit publizieren? Erfahren Sie mehr über unsere günstigen Konditionen und unseren Service für Autorinnen und Autoren.