Natalia HergettEhre in der russischen Literatur
Analyse des Begriffs in ausgewählten Werken von Aleksandr S. Puskin
Studien zur Slavistik, Band 6
Hamburg 2003, 178 Seiten
ISBN 978-3-8300-1053-1 (Print)
Zum Inhalt
„Ehre“ ist als eine axiologische Größe zu begreifen, der in der Gesellschaft eine Steuerungsfunktion zukommt. Somit ist der Wertkonzeption „Ehre“ ein gewisser Wandel und eine Stetigkeit inhärent, die sprach- und kulturgeschichtlich festgehalten werden. Unter vorgenommener Begriffsdifferenzierung – männliche Ehre, weibliche Ehre, die im weiteren Sinne Familienehre impliziert – wird ein geschlechtsspezifisches Potential aufgezeigt. Aber auch die Unterscheidung in innere Ehre (Moral, Gewissen, Selbstwertschätzung) und äußere Ehre (Anerkennung, Ruf, Reputation) dient der Darstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen und den sich daraus ergebenden Konflikten. Ein Spezifikum stellt das Duell dar, das von Adeligen als Mittel zur Wiederherstellung der verletzten Ehre verstanden wurde.
Es wird eine Begriffs- und Bedeutungsklärung für die westeuropäische und russische Kultur vorgenommen. Die zweifache Betrachtungsweise wird u.a. deswegen herangezogen, da Aleksandr Puškin (dem in dieser Arbeit das besondere Augenmerk gilt) die westeuropäische, besonders die französische, und russische Kultur auf eine einzigartige Weise synthetisierte.
In der russischen Literatur vom Mittelalter über Klassizismus, Sentimentalismus und Romantik hin zum Realismus ist eine Tendenz zur Verinnerlichung der Ehre sowie eine Entwicklung vom kollektiven Ehrverständnis zum individuellen Ehrbegriff festzustellen. So werden in Slovo o polku Igoreve (Igorlied) Ruhm und Ehre als antithetische Begriffe aufgefasst, die soziale Verhältnisse in der mittelalterlichen Gesellschaft regelten. Vor dem Hintergrund der Säkularisierung und Aufklärung wird in Fonvizins Nedorosl’ (Der Landjunker) und seiner Autobiographie eine Aufwertung der inneren Ehre gegenüber der äußeren Ehre sowie die Ausrichtung auf die Lebensführung eines Menschen deutlich. In den Werken Puškins Evgenij Onegin und Tazit wird der Konflikt eines Individuums mit der Gesellschaft thematisiert. In Tazit sieht sich der Protagonist außerdem mit dem Wertgefüge eines anderen Kulturkreises konfrontiert. In Vystrel (Der Schuss), Evgenij Onegin und Kapitanskaja docka (Die Hauptmannstochter) wird das Duell als Institution zur Verteidigung der verletzten Ehre durch zahlreiche Reglementverletzungen hinterfragt. Auch das Verständnis der weiblichen Ehre wird von Puškin in Evgenij Onegin und Stancionnyj smotritel’ (Der Postmeister) – einer Replik auf Karamzins Bednaja Liza (Die arme Lisa) – zur Diskussion gestellt. Während Tat’jana an den gesellschaftlichen Normen scheitert (sie bewahrt ihre äußere Ehre und die ihres Ehemannes), setzt sich das einfache Mädchen Dunja gegen den Normkodex durch und wird zum selbstbewussten Schmied ihrer Zukunft. Schließlich wird das persönliche Ehrverständnis von Puškin in die Betrachtung einbezogen. Resümierend lässt sich sagen, dass Puškins Helden sich vom archaischen Ehrverständnis lösen und ihre neuen Ehrbegriffe prägen, die auf gegenseitigem Respekt und Humanität beruhen.
Schlagworte
Alexander PuschkinEhrbegriffEtymologieLiteraturwissenschaftRussische LiteraturSemiotikSlavistikIhr Werk im Verlag Dr. Kovač
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