Aneta JurzystaDie zerstörerische Macht des Weiblichen – Das Bild der Femme fatale in der deutschsprachigen Literatur der Moderne I
Leopold von Sacher-Masoch und Frank Wedekind
Studien zur Germanistik, Band 111
Hamburg 2024, 252 Seiten
ISBN 978-3-8300-8475-4 (Print)
ISBN 978-3-339-08475-0 (eBook)
Zum Inhalt
Der Archetypus der dämonischen Femme fatale lässt sich mühelos in jeder Epoche und in nahezu allen Kulturen nachweisen, er tritt besonders häufig in der Literatur und in der Malerei, in der filmischen Kunst und in der Musik, in der Wissenschaft und Publizistik auf, doch gerade in der Zeit des Fin de siècle etablierte sich die reizvolle und grausige Frauengestalt als weibliche Symbolfigur und erlebte unzählige literarische und literaturkritische Thematisierungsversuche.
Somit stellt sich für die vorliegende Arbeit, die die Femme fatale in der deutschsprachigen Literatur der Moderne als Untersuchungsgegenstand fokussiert, als konstitutiv heraus, die Geschichte dieses signifikanten Weiblichkeitsbildes und seine Begriffsbestimmung zu skizzieren, die kennzeichnenden Merkmale dieses Typus aufzulisten und die Frage zu beantworten, warum sich ausgerechnet um die Jahrhundertwende dieses grausam-laszive Weiblichkeitsmodell so großer Beliebtheit erfreute, sowie in zahlreichen Varianten gezeichnet und mit scheinbar unermüdlichem Eifer behandelt wurde.
Das Verfahren, in dem man sich in der Untersuchung der Femme-fatale-Gestalten nur auf ihre Darstellungsvarianten innerhalb einer literarischen Epoche konzentriert, erscheint zweifelsohne legitimiert, zumal es von Beispielen dieses markanten Frauentypus gerade in der Literatur der Moderne, d.h. in den Ende des XIX. und Anfang des XX. Jahrhunderts entstandenen Werken wahrlich wimmelt und die Jahrhundertwende, wie keine andere literarische Epoche, eine breite Palette von divergierendsten Variationen dieses weiblichen „Übermenschen“ lieferte. Den Gegenstand der kompletten Analyse bilden also vier Femmes fatales dieser Zeit, die sich zwar allein schon wegen ihrer Zugehörigkeit zu diesem Frauentypus ähnlich sein müssen, doch offenbar auch wahrnehmbare und gewichtige Unterschiede aufweisen können.
Wegen dieser Heterogenität und Verschiedenartigkeit wird nun zwischen vier Varianten der Femme fatale unterscheiden, von denen zwei im vorliegenden Band Die zerstörerische Macht des Weiblichen – Das Bild der Femme fatale in der deutschsprachigen Literatur der Moderne I: Leopold Sacher-Masoch und Frank Wedekind präsentiert und am Beispiel von Leopold Sacher-Masochs Protagonistin Wanda von Dunajew (Venus im Pelz) und Frank Wedekinds Heldin Lulu (Erdgeist und Die Büchse der Pandora) charakterisiert werden. Weitere zwei Femme-fatale-Typen bilden den Untersuchungsgegenstand des zweiten Teils der Analyse, in dem das wissenschaftliche Augenmerk auf Heinrich Manns weiblichen Figuren Violante von Assy (Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy) und Rosa Fröhlich (Professor Unrat) liegt. Dieser zweite Band, der Die zerstörerische Macht des Weiblichen – Das Bild der Femme fatale in der deutschsprachigen Literatur der Moderne II: Heinrich Mann betitelt wird, könnte somit als Ergänzung und Vertiefung der vorliegenden Studie verstanden werden, zumal sich die dort enthaltenen Schlussfolgerungen auf alle vier „fatale“ Weiblichkeitsmodelle beziehen.
Das literarisch-künstlerische Phänomen der Femme fatale lässt sich innerhalb einer literarischen Gattung oder gattungsunabhängig, innerhalb einer ausgewählten Periode oder zeitübergreifend im Laufe mehrerer Epochen (beispielsweise von der Antike bis zur Gegenwart) verfolgen. Des Weiteren ist es möglich, diesen Frauentypus komparatistisch, multikulturell und interdisziplinär zu untersuchen, d.h. dessen exemplarische Darstellungen und Realisierungsvarianten in der Literatur und in der Kunst zu vergleichen. Um die Objektivität und Gründlichkeit der Untersuchung zu gewährleisten, Verallgemeinerungen und wegen der Fülle und Vielfalt der Femme-fatale-Variationen binnen Jahrhunderte drohende Oberflächlichkeit zu vermeiden, schien es für diese Arbeit berechtigt, das Bild der dämonischen Verführerin und Unheilbringerin in ausgewählten Prosatexten und Dramen, die während nur einer literarischen Phase entstanden sind (und eben derjenigen, in der die Femme fatale ihre Blütezeit erlebte) zum Untersuchungsgegenstand zu wählen, dabei die künstlerische Gestaltung des Motivs zu skizzieren und die Kunstbezüge in der Charakteristik der jeweiligen Protagonistin hervorzuheben. Allein schon wegen der Fülle der literarischen Bearbeitungen, deren sich das Femme-fatale-Motiv besonders um die Jahrhundertwende rühmen kann, kann der Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben werden. Somit beschränkt sich die Untersuchung des ambiguen Frauenbildes auf die bedeutendsten Beispiele der Femme fatale in der deutschsprachigen Literatur dieser Zeit, die als repräsentativ für unterschiedliche Spielarten des Motivs fungieren können.
Das Augenmerk wird in dieser Arbeit auf das Bild der Femme fatale in den deutschsprachigen Werken gerichtet, was umso wichtiger erscheint, als bis heute wohl immer noch keine ausreichende Untersuchung dieses Phänomens gerade in dieser Literatur vorliegt. Sowohl Praz, als auch Bade (1979), Schickedanz (1983), Stein (1985) oder Blänsdorf (1999) eruieren das Bild dieser Weiblichkeitsimagination aufgrund der französischen, italienischen und englischen Literatur und klammern die deutsche völlig oder größtenteils aus oder sie liefern überwiegend bildliche Darstellungen bzw. Textausschnitte. Selbst Hilmes (1990), die den Anspruch erhebt, sich in ihrer verdienstvollen Arbeit mit der deutschen Literatur zu beschäftigen, knüpft eng an westeuropäische Beispiele an.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, die geläufigen Definitionen der Femme fatale zu ergänzen oder zu modifizieren, die Anwendbarkeit dieser Beschreibungen, die auf zahlreiche Frauengestalten der europäischen Literatur und bildenden Kunst der früheren Epochen zutrifft, auf untersuchte Femme-fatale-Gestalten des ausgehenden XIX. Jahrhunderts zu überprüfen.
Dass dieses Motiv im Laufe der Jahrhunderte und Jahrzehnte variiert, beweist die in den letzten Jahren unter Einfluss der filmischen Darstellungen der Figur aus dem ausgehenden XX. Jahrhundert im alltäglichen Sprachgebrauch weit verbreitete, leider aber vollkommen ungerechtfertigte Verwendung des Begriffs „Femme fatale“ für emanzipierte, unabhängige Frauen, wobei der Aspekt des Unheil- und Todbringenden gänzlich ausgeblendet und die dem klischeehaften Frauenbild innewohnende selbst- und menschenzerstörende Komponente in der Stilisierung übersehen werden. Die moderne Femme fatale des Alltags ist eine herzlose und distanzierte Schöne mit einem teils geheimnisvollen, teils verächtlich-spöttischen Lächeln und einem kalten, undurchschaubaren Blick, die uns von allen Illustrierten und Bildschirmen anblickt und verführt. Diese bösen Beauties des späten XX. und des XXI. Jahrhunderts wirken meist exklusiv, unangepasst und unberechenbar, es sind selbst- und modebewusste Karrierefrauen, für die die Sexualität nicht selten nur Mittel zum Erreichen des beruflichen Ziels darstellt.
Die moderne Verwendung des Begriffs entfernt die Femme fatale von ihren mythischen Vorbildern und verfälscht das wahre Wesen der Motivfigur, verzerrt dabei ihr Bild bis zur Unkenntlichkeit, kurzum: der Mythos der dämonischen Verführerin und unheilbringenden Männerprojektion wurde heutzutage „veralltäglicht“ und durch die Neutralisierung des Zerstörerischen, das dieses Imago noch um die Jahrhundertwende kennzeichnete, entmythisiert und vermarktet.
Zur Autorin
Dr. Aneta Jurzysta studierte Germanistik an der Pädagogischen Hochschule in Rzeszów, danach absolvierte sie das Aufbaustudium Deutsch als Fremdsprache an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neophilologie der Universität Rzeszów (Abteilung für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Länder). Mehrmalige DAAD-Stipendiatin und Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen vor allem die deutschsprachige Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts, zur Zeit insbesondere die Themenkomplexe Fremdheit, Gedächtnisarbeit und Globalisierung.
Schlagworte
Femme fataleFrank WedekindFrauenbildLeopold von Sacher-MasochLiteraturwissenschaftModerneWeiblichkeitIhr Werk im Verlag Dr. Kovač
Weiteres Buch der Autorin
Heinrich Mann
Hamburg 2024, ISBN 978-3-8300-8476-1 (Print) | ISBN 978-3-339-08476-7 (eBook)