Forschungsarbeit: Ethnographie eines Rehabilitationsprojektes für psychisch kranke Obdachlose im westlichen Indien

Ethnographie eines Rehabilitationsprojektes für psychisch kranke Obdachlose im westlichen Indien

Die heimatlosen Verrückten

Fern/Sehen: Perspektiven der Sozialanthropologie, Band 5

Hamburg , 200 Seiten

ISBN 978-3-8300-5723-9 (Print)

ISBN 978-3-339-05723-5 (eBook)

Zum Inhalt

In den 1980er Jahren zeigten Ethnologen in der sozialkonstruktivististischen Tradition das erste Mal, dass auch die sich auf „naturwissenschaftliche Fakten“ berufende Biomedizin auf kulturellen Konzepten beruht. Die Untersuchung biomedizinischer (psychiatrischer) Institutionen mittels der Methoden der Ethnologie zeigte in den darauffolgenden Jahrzehnten der Biomedizin inhärente Personenkonzepte und Wertehierarchien auf. Ausgeblendet wurde dabei jedoch häufig, dass die biomedizinische Praxis als jeweils lokales Produkt bestimmter sozialer Bedingungen anzusehen ist und je nach kulturellem Kontext verschiedene Formen annimmt. Psychiatrische Institutionen in außereuropäischen Regionen, wie beispielsweise Indien, wurden bisher kaum untersucht. Damit wurde versäumt Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen, die die psychiatrische Praxis in verschiedenen Kulturen prägt.

An diesem Punkt setzt die Autorin Annika Strauss in ihrer Analyse einer psychiatrischen Organisation, des Mentally Ill Destitute Rehabilitationcenter, an. Diese arbeitet im westlichen Indien in der Nähe der Megastadt Mumbai mit obdachlosen psychisch Kranken. Ihre Untersuchung zeigt zum einen die lokalen kulturell-sozialen Einflüsse und Werte auf, die die Arbeit der Nichtregierungsorganisation (NGO) strukturieren. Zur sozialwissenschaftlichen Analyse der psychiatrischen Institution zieht sie darüber hinaus ethnologische Konzepte zum gesellschaftlichen Umgang mit Anormalität und geistig-seelischer Krankheit („Verrücktheit“) heran. Die Analyse beruht auf den Ergebnissen eigener Feldforschung in der NGO. Diese nimmt obdachlose psychisch Kranke von der Straße, behandelt sie mittels Psychopharmaka und rehabilitiert sie anschließend sozial, indem sie sie in ihre Herkunftsfamilien zurückbringt.

Eine Zusammenfassung der vorliegenden Literatur zur Psychiatrie in Indien seit ihren Anfängen in der Kolonialzeit bettet den Aktivismus der NGO in die derzeitigen Entwicklungen und aktuellen sozialen Diskurse ein. Die ethnographische Beschreibung und Analyse des Mentally Ill Destitute Rehabilitationcenter enthält eine Fülle von Details zur Gründung der Organisation, Zusammensetzung der Mitarbeiter, dem Umgang mit Patienten, der räumlichen Gestaltung und dem institutionellen Alltag. Besonders zentral ist die Analyse des Wertes der Familie in der indischen Gesellschaft, der sowohl grundlegend für die Organisation des Centers, als auch für seine Arbeitsweise und Ziele ist. Das einflussreiche Ideal der Familie bringt jedoch auch Widersprüche und Konfliktlinien hervor. Dies zeigt die Autorin am Beispiel der Situation der weiblichen Langzeitpatientinnen der Organisation, die sich psychiatrisch meist in einem stabilen Zustand befinden. Unter anderem auf Grund der Stigmatisierung ihrer Erkrankung können sie jedoch nicht in ihre Familien zurückkehren. Sie werden so zu „chronischen“ Patientinnen, die nicht sozial rehabilitiert werden können. Hier wird schließlich deutlich inwieweit Institutionen und die von ihnen produzierten Weltbilder stets gewisse Phänomene ausblenden müssen und inwieweit der Zustand „chronisch krank“ auch sozial konstituiert ist.

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