Alexander SchleeZumutbarkeit bei Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten
Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 162
Hamburg 2009, 400 Seiten
ISBN 978-3-8300-4633-2 (Print)
ISBN 978-3-339-04633-8 (eBook)
Zum Inhalt
Die Studie von Reinhard Frank „Über den Aufbau des Schuldbegriffs“ aus dem Jahr 1907 bildet die Grundlage einer noch heute anhaltenden Diskussion über einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit. Während sich bei den Vorsatzdelikten ein Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit bislang nicht durchzusetzen vermochte, hat diese Figur bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten allgemeine Anerkennung gefunden. Dabei sind aber nach wie vor die Reichweite sowie die genaue Einordnung der Unzumutbarkeit umstritten. Das dieser Studie zugrunde liegende Ziel besteht darin, die Bedeutung und den Inhalt des Zumutbarkeitsbegriffs im deutschen Strafrecht zu konkretisieren. In Abhängigkeit der Deliktskategorie wird untersucht, unter welchen Umständen ein normgemäßes Verhalten unzumutbar ist und welche Konsequenzen sich daraus für den Täter ergeben.
Im Bereich der Vorsatzdelikte spielt die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens nach heute vorherrschender Lehre keine eigenständige Rolle. Der Gedanke der Zumutbarkeit lässt sich anhand einiger Schulbeispiele darstellen, die zum Teil mit der heutigen Regelung des § 35 StGB übereinstimmen. Zur Erklärung des entschuldigenden Notstandes ist eine verfassungsrechtliche Grundlage heranzuziehen, denn die Vorgaben des Grundgesetzes hat der Gesetzgeber für strafrechtliche Regelungen zu berücksichtigen. Die Abwehr- bzw. Schutzfunktionen der Grundrechte begründen Kriminalisierungsverbote bzw. -gebote, die den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung, insbesondere des § 35 StGB, binden. Der Gesetzgeber muss aufgrund dessen die Tötung Dritter zur Rettung des eigenen Lebens grundsätzlich mit Strafe bedrohen, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. Aus der Sicht des Täters ist jedoch hiervon eine Gegenausnahme zu machen, nach der eine Sanktionierung des Täters ausbleiben muss, wenn diese sonst zur Selbstaufgabe zwingt. Das (grundsätzliche) Bestrafen-Müssen findet seine Grenze im (speziellen) Nicht-Bestrafen-Dürfen. Die sogenannte „Zumutbarkeitslehre“ findet ihren Ausgang bei Reinhard Frank, der sie in den von ihm entwickelten Bestandteil des normativen Schuldbegriffes einordnet. Die Versuche, diesen Gedanken fortzuführen, sind im Ergebnis alle abzulehnen. Ebenfalls scheidet eine analoge Erweiterung des § 35 StGB auf andere als die genannten Rechtsgüter oder auf weitere durch die Gefahr bedrohte Personen aus. Einziger Anknüpfungspunkt, um den einschlägigen Fällen, etwa den Euthanasiefällen, und der Besonderheit der Konfliktlage gerecht zu werden, stellt die Ebene der Strafzumessung dar.
In der Lehre wird bei den Unterlassungsdelikten teilweise eine Erweiterung der Rolle der Zumutbarkeit über § 35 StGB hinaus befürwortet. So wird das Merkmal der Zumutbarkeit im Tatbestand des § 323 c StGB ausdrücklich benannt. Bei dessen Konkretisierung muss auf eine Vielzahl von Abwägungskriterien zurückgegriffen werden, die sich aus Wertungen und Gesichtspunkten der §§ 34, 35 StGB ergeben. Das Merkmal der Zumutbarkeit ist hierbei als Tatbestandsmerkmal einzuordnen, da nur so eine hinreichende Begrenzung der Solidaritätspflicht erreicht werden kann. Auch im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte scheidet ein übergeordneter Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit auf der Grundlage einer Erweiterung des § 35 StGB aus. Allerdings können Unzumutbarkeitserwägungen auf der Tatbestandsebene zur Begrenzung der Garantenpflicht berücksichtigt werden.
Im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte haben die Zumutbarkeitserwägungen historisch gesehen als Ausschlussgrund für die Schuld ihren Anfang genommen. Aber auch hier scheidet eine übergesetzliche Entschuldigung auf der Grundlage einer entsprechenden Anwendung des § 35 StGB aus. Schuldmilderungen können im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte hingegen bei der Strafzumessung oder durch die Anwendung der §§ 153 ff. StPO Beachtung finden.
Schlagworte
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