Inge AuerbachDas Gemeine Wohl im Osten Europas Anfang des 17. Jahrhunderts
Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 39
Hamburg 2025, 524 Seiten
ISBN 978-3-339-14314-3 (Print)
ISBN 978-3-339-14315-0 (eBook)
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Wer fragt, warum ist Demokratieexport in einigen Ländern erfolgreich möglich, in anderen nicht, wird auf Mentalitätsunterschiede stoßen, die sich aus unterschiedlichen Erfahrungen von Völkern erklären lassen. Es gibt eine Art von „kollektivem Gedächtnis“, das sich aus z.T. sehr alten Elementen zusammensetzt.
Hier geht es um übernationale Gemeinsamkeiten ostmitteleuropäischer Gesellschaften um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in allem Fällen geprägt durch ein Leben in Ständestaaten. Institutionen sind damals vergleichbar. Sie sind verschwunden. Die damalige Freiheit des Adels entwickelte sich zu Menschenrechten für alle. Als länger wirksam haben sich politische Konzepte erwiesen, die als Argumente im Aushandeln von Kompromissen zwischen Herrscher und Untertan sichtbar werden.
Auch in der Gegenwart gelten das Gemeinwohl, die Nation, das Vaterland, für Polen die Rzeczpospolita als Richtschnur für eine gute Politik. Bereits in unserem Untersuchungszeitraum sind die auf den Reichs- oder Landtagen vertretenen Stände eingeübt in ein Zurückstellen eigener Interessen, in finanzielle Opfer zugunsten der Allgemeinheit, das Aushandeln von Kompromissen. Die Untersuchung zeigt, welche Wurzeln diese noch nur vom Adel erwartete Haltung hat. Der zentrale Begriff des Gemeinwohls ist eine Besonderheit des röm.-kath. Kulturraumes. Moscovien kannte das Konzept nicht, die Hohe Pforte Vergleichbares (Kreis der Gerechtigkeit).
Um basierend auf politischer Propaganda einer Idealisierung der Verhältnisse vorzubeugen, wird am Beispiel Ungarns in normalen Zeiten und in der Krisensituation des 13-jährigen Krieges untersucht, wo Eigennutz vor Gemeinsinn stand. Verbesserungswünsche orientierten sich häufig an einem idealisierten osmanischen Reich, forderten eine Stärkung der Macht des Herrschers, Absolutismus. Zeitgenössische Türken aber sahen sich in einer Zeit des Verfalls, auch sie forderten Reformen. Unter Siebenbürgern fanden sich Befürworter einer Verfassungsänderung nach venezianischem Muster.
Und es gab überall Aussteiger aus dem System, radikale Christen, die in einer vermeintlichen Endzeit nach dem Muster der Urchristen lebten und als Gerechte im Jüngsten Gericht auf ein gnädiges Urteil spekulierten. Religiöse Toleranz war selbstverständlich. Noch gab es im ostmitteleuropäischen Adel politisch-gesellschaftlich Wichtigeres als die Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgemeinschaft.
Zur Autorin
Inge Auerbach, geboren 1941, studierte Slawistik, Geschichte und Politologie an den Universitäten Marburg und Kiel. Sie legte das Staatsexamen ab und wurde mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit an der Universität Kiel promoviert. Ab 1970 war sie im höheren Archivdienst am Hessischen Staatsarchiv Marburg tätig. Nach mehreren Forschungsaufenthalten als Austauschwissenschaftlerin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie einer einjährigen Beurlaubung für Archivstudien – insbesondere in Moskau und Kiew – habilitierte sie sich 1980 an der Universität Marburg mit einer Biografie Kurbskijs und war damit eine der ersten Frauen, die dort eine Habilitation erlangten. Anschließend wirkte sie als Privatdozentin und später als außerplanmäßige Professorin parallel in der universitären Lehre und im Archivdienst.
Im Archivdienst sowie als Dozentin an der Archivschule Marburg leitete sie mehrere Kurse zur Erschließung von Archivalien mittels EDV. Diese Projekte dienten insbesondere der Schonung häufig konsultierter Akten, etwa zu den im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf britischer Seite eingesetzten hessischen Soldaten sowie später zu Auswanderungsakten aus Kurhessen. Nach weiteren Forschungsaufenthalten in Moskau (1989) und den USA entstanden daraus mehrere Monografien: eine im Auftrag des Hauses Hessen verfasste Studie über hessische Soldaten im Unabhängigkeitskrieg sowie zwei weitere Werke zur Geschichte der Auswanderung aus Kurhessen. Nach ihrer Pensionierung veröffentlichte sie schließlich im Verlag Dr. Kovač eine umfassende Untersuchung zur Auswanderung aus dem heutigen Hessen.
Ihre Arbeit zum Gemeinen Wohl geht auf Diskussionen mit Gerhard Oestreich während der gemeinsamen Arbeit an einem Lexikonartikel zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn zurück. Ein weiterer Impuls ergab sich aus der Analyse hessischer Verordnungen, die ihr tiefergehende Einblicke in die Entstehung und Durchsetzung gesellschaftlicher Werte vermittelten. Die ursprünglich geplante Einbeziehung Russlands in einen Vergleich mit der ansatzweise ständestaatlichen Epoche des frühen 17. Jahrhunderts konnte nicht realisiert werden, da die Akademie der Wissenschaften der UdSSR ihr den Zugang zu weiteren Archivalien verweigerte.
Schlagworte
AbsolutismusBöhmenDonaufürstentümerGeschichteHabsburgerKosakenMentalitätsgeschichteMoscovienPolen-LitauenReformationStändestaatTatarenTürkengefahrUngarnIhr Werk im Verlag Dr. Kovač
Weiteres Buch der Autorin
Von Bauern und Bäckern – Rußland in der Geschichte der Auswanderung aus Hessen
Zum 250. Jubiläum des Aufbruchs an die Wolga 1766
Hamburg 2017, ISBN 978-3-8300-9466-1 (Print) | ISBN 978-3-339-09466-7 (eBook)